Elvis’ Guitar (Anna Noah)

Im neu eröffneten Rock-and-Roll-Schuppen war es laut und stickig. Armin hatte André zu einem Fass-Tisch vor einer schrecklich grünen Ornamenttapete geführt. Über ihnen an der Wand hing die Gitarre des Kings, die dem Laden seinen Namen gab: Elvis’ Guitar.
      „Ist die echt?“ André konnte es nicht glauben. „Wie kommt ein Clubbesitzer zu so einem Schatz?“
      Armin grinste. „Vielleicht aus dem Hard-Rock-Cafe geklaut. Das gute Stück hat sogar ein Autogramm versteckt. Warte mal …“ Er ging näher heran und leuchtete mit der Handylampe den Bundstab entlang. „Hier!“
      André schaute ihm über die Schulter. Winzig klein, in der Nähe des Stegs schien mit Schwarz etwas hingekrakelt zu sein. Das hätte alles heißen können. Außerdem würde man doch so einen Schatz vor Betrunkenen schützen … Ungläubig stellte er seine Spezi auf dem Tisch ab. André fand die Musik, die gespielt wurde als eingefleischter Rock-and-Roll-Fan super, aber diese ganzen Rockabillymädchen verwirrten ihn. Manche waren extrem kräftig gebaut, dann trugen noch einige davon Petticoat-Kleider … die wirkten aufgeplustert wie Zirkushühner. Wenig besser sahen die Frauen im Grease-Style aus. Coole Lederjacken, doch dazu fettig glänzende Haare. Wenn John Travolta das sehen könnte, er würde wahrscheinlich heulen. Andrés Laune fiel zusehends auf Kellerniveau.
      „Mensch, was bist du nur für ein Trauerkloß! Sogar Elvis hatte die Depressionen später als du“, plärrte ihm sein Freund ins Ohr. „Let's dance! Dann vergisst du auch deine Ex.“ Mit einem eher peinlich denn eleganten Hüftschwung mischte sich Armin unter die Leute auf der Tanzfläche.
      André beschloss, nach der ersten Spezi zu gehen. Da rempelte ihn eine junge Dame an.
      „Huch“, kicherte sie und strahlte, wie Sandra … früher. Sie war seiner Ex sogar ein bisschen ähnlich. Blonde, leicht gelockte Haare, eher schlanke, kleinere Statur. Irgendwie süß in ihrer Lederjacke.
      „Entschuldigung, ich habe …“
      „Schon gut.“ André winkte ab. Er hatte den Rest eh nicht verstanden, da Let’s twist again gerade in voller Lautstärke erklang.
      „Dabei bin ich nüchtern“, rief sie.
      „Ach, wirklich?“
      Sie nickte und hauchte dem verdutzten André ins Gesicht. Es roch nicht nach Alkohol. Eher wie Orangensaft. Außerdem war da eine süße Note, vielleicht von einem Bonbon.
      „Siehst du?“ In ihrem Blick lag etwas Triumphierendes, genau wie in dem von Sandra, wenn sie recht hatte.
      Er hob beschwichtigend die Hände. „Okay, okay. Ich glaub’s dir.“
      „Ich heiße übrigens Candy.“ Sie strich ihm über den Arm.
      „André.“
      „Muss mal kurz weg.“ Candy verschwand.
       „Hey, wer war das denn?“ Armin schien von der Tanzfläche aus nichts entgangen zu sein. „Die ging ja richtig ran! Aber ich glaube, das ist genau, was du brauchst!“ Er nippte vielsagend an seiner Bierflasche.
      „Sie heißt Candy.“
      „Was? Eine Ostbraut? Wird ja immer besser. Die sollen hemmungslos sein.“
      „Der Name sagt ja wohl kaum etwas über ihre Herkunft aus.“
      „Haha. Alter, die Bräute im Osten heißen alle so: Candy, Mandy, Cindy. Oder Chantalle.“ Er betonte penetrant das eigentlich nicht gesprochene e am Ende.
      „Ach, lass mich doch in Ruhe, mir egal, wo sie her ist.“ André fand Gespräche bei diesem Lautstärkepegel äußerst anstrengend.
      Gerade, als er den letzten Schluck Spezi trank, kam Candy zurück.
      Sie meinte mit einem entschuldigenden Lächeln: „Meiner Begleitung war urplötzlich übel. Ich habe sie nach Hause gefahren und mir noch etwas an der Bar geholt, daher hat es etwas länger gedauert. Wenn du mich fragst, sie ist schwanger.“
      „Oh. Achso.“
      Armin verschwand wieder auf die Tanzfläche, natürlich nicht ohne seinem Freund hinter Candys Rücken mit ein paar eindeutigen Hand-Zeichen zu dem Fang zu gratulieren.
      „Und was machst du so außerhalb der Back-to-the-60s-Disco?“, brüllte Candy in Andrés Ohr.
      „Ich bin im sozialen Bereich tätig“, schrie er zurück.
      „Kinder?“
      „Nicht wirklich, seh’ ich so aus?“
      „Ein bisschen. Lehrer bist du aber nicht.“ Sie zog an ihrem Strohhalm und schaute ihn interessiert an.
      „Nein, bei der Bahnhofsmission.“
      „Oh! Da landen öfter welche meiner Freundinnen.“
      „Echt?“
      „Ja, die übertreiben es nachts.“
      „Inwiefern?“
      „Na ja, lassen sich mit zwielichtigen Typen ein, die sie beklauen oder schlagen … später werden die Mädels irgendwo ausgesetzt.“
      „Verstehe.“ André grübelte nach, ob ihm auf einer der letzten Schichten etwas aufgefallen war. Allerhöchstens mal eine Prostituierte, die Schutz suchte, aber andere junge Frauen?
      „Hauptsache, du kannst auf dich aufpassen“, rief er.
      „Klar, ich beherrsche Kung Fu.“ Sie nahm eine asiatische Kampfpose ein.
      „Ist ja witzig, ich habe heute von einer Kollegin erst ein paar Qigong-Übungen gelernt.“
      „Nicht ganz dasselbe, aber ein Anfang.“ Candy trank ihr Glas leer.
      Diesen Umstand nutzte André. „Magst du noch was trinken?“
      „Gerne, der Orangensaft ist echt okay.“
      André entfernte sich quer durch den Raum in Richtung Bar. Als er zurück an den Tisch kam, waren Armin und Candy in ein Gespräch vertieft.
      „Siehst du, ganz der Gentleman, mein Freund.“ Armin schlug André brüderlich auf die Schultern.
      Derweil nahm Candy den Saft entgegen. „Danke. Du hast ja gar nichts für dich mitgebracht?“
      „Stimmt“, André überlegte, wie er den Satz formulieren sollte, „ich werde dann auch bald gehen … müssen.“
      „So früh? Es ist doch erst kurz nach Mitternacht“, protestierte sie.
      „Schon, aber ich muss morgen in die Mission. Außerdem sollte ich den letzten Bus kriegen, sonst komme ich hier nicht mehr weg.“
      „Okay, dann lass' mich dir ein Angebot machen. Ich kann dich heim bringen, wenn dir ein klappriger, alter Peugeot nicht zu abgewrackt ist.“
      Armin entfernte sich wieder und hielt seine beiden Daumen nach oben.

Später saß André neben Candy in ihrem kleinen Wagen in seiner Straße. Im Auto lief Bye Bye Love, während in seinem Kopf Peggy Sue nachhallte.
      „Danke“, sagte er schließlich.
      „Du bist echt in Ordnung.“ Candy klang ehrlich.
      „Du auch.“
      Bevor André aussteigen konnte, beugte sie sich hinüber und küsste ihn. Er erwiderte ihren Kuss erst zaghaft, aber dann … So, wie er nie zuvor eine Frau, die er kaum kannte, geküsst hatte. Die Leidenschaft übernahm die Oberhand. Er wusste auf einmal genau, was er wollte: Candy. Nicht, um Armin eine Story zu präsentieren, was der dachte, war ihm relativ egal, nein, dieses Etwas an ihr, was ihn an Sandra erinnerte, das Fünkchen Erinnerung. Er musste sie vögeln, jetzt.
      Im Radio dudelte Love me tender.
      Wild fummelnd schoben sie sich aus dem Auto, an den Briefkästen entlang, die Treppe hoch bis zur Wohnungstür. Während er aufschloss, öffnete sie schon seine Hose. André konnte nicht behaupten, dass ihm das missfiel. Er fegte eine leere Schüssel vom Küchentisch, setzte Candy drauf, zog ihren Unterkörper an seinen harten Penis, während er ihren Hals küsste.
      „Da ist noch etwas …“, flüsterte Candy.
      „Nur zu“, André liebkoste ununterbrochen ihr Dekolletee und entblößte eine Brust, „Was ist denn?“ Seine Zunge umspielte ihre Brustwarze. Die Leidenschaft wuchs ins Unermessliche. Candy sagte nichts mehr, warf nur ihren Kopf in den Nacken.
      Auf einmal schubste sie ihn weg, drehte sich um, beugte sich über den Tisch und wackelte kokett mit dem Hintern. André schob ihren Lederrock hoch und berührte den dünnen Stoff ihres Slips. Sie hatte die Augen geschlossen. Aufgeregt streichelte er ihren Unterbauch, roch ihr süßes Parfüm, vermischt mit Schweiß. Als er seine Finger weiter vorschob, spürte er auf einmal einen erigierten Penis. Erschrocken zog er seine Hand zurück. „Was zum Geier?“ Er taumelte drei Schritte rückwärts. „War es das, was du mir sagen wolltest?“
      Candy drehte sich um und nickte. „Tut mir leid, ich konnte ja nicht wissen, dass du so leidenschaftlich drauf bist und da hab ich mich einfach mitreißen lassen.“
      „Ich glaube, ich kann jetzt nicht mehr.“ André packte seinen Penis gewaltsam wieder ein.
      Dieser Blick! Sie schaute genau wie Sandra, als er sie das erste Mal vor der Bahnhofsmission gesehen hatte. Eine undefinierbare Mischung aus diversen Gefühlen kurz vorm Tränenstrom.
      „Das war's dann wohl.“ Hastig richtete sie ihren Rock.
      André sagte nichts.
      „Ich geh’ mal.“ Candy hob die Lederjacke vom Boden auf und dann war sie zur Tür hinaus.
      André starrte auf den kleinen Spalt, den sie offen gelassen hatte.
      Wenig später hörte er ihr Auto unten wegfahren. Es klang fast vorwurfsvoll.
      Irritiert legte er ein Album von Johnny Cash in den CD-Player und setzte sich auf seine Couch. Die Arme auf den Knien abgestützt, schüttelte er ungläubig den Kopf. Das durfte alles nicht wahr sein! Andere flogen bis Thailand, um so etwas zu erleben, er bekam es gratis aber fühlte sich völlig überfordert. Armin hätte das garantiert geil gefunden.
      Es konnte nur an der Tatsache liegen, dass er weiterhin unter Schock stand, dass seine Erregung anhielt. Vielleicht hätte er es drauf ankommen lassen sollen. Andererseits war es für ihn völlig ausgeschlossen, als Kerl eine Person mit einem Penis zu vögeln! Oder doch nicht?
      Was, wenn er noch mal in den Schuppen ging. Vielleicht war Candy noch mal da und er konnte sich entschuldigen. Wie unter Männern. Ach. So ein absurder Gedanke. Was sollte er ihm oder ihr sagen?
      Ruhelos stand er auf, ging in die Küche, kochte sich einen von Sandras zurückgelassenen Johanniskraut-Tees und setzte sich an seinen Computer. Er musste jetzt irgendetwas tun, um sich abzulenken. Bloß keine Pornos. Armin kontaktieren? Nein, der würde sich garantiert kaputt lachen.
      Ein Chat vielleicht. Ja, André fühlte sich genötigt, jemandem davon zu erzählen, am besten anonym.

(14:57) System (privat): Herzlich willkommen bei Quasselnet! Bitte niemals persönliche Daten, z.B. Deine Adresse, an jemanden herauszugeben, den Du nur vom Chat kennst!
(01:55) System: André kommt hinein.
(01:55) elke: sind auch geile frauen da die nicht lügen?
(01:56) Cello: nicht in hundert jahren 🙂
(01:56) jolo: o_O eben hats gefunkt wa
(01:56) André: hallo allerseits
(01:56) System: Barfuß_w kommt hinein.
(01:57) .blindschleiche: freilich.... mit de handgstrickten kniastümpf und so..
(01:57) System: lisa kommt hinein.
(01:57) System: SeriöserKontakt kommt hinein.
(01:58) André: vielleicht eine merkwürdige frage: hat hier schon mal jemand eine frau kennengelernt, die sich als ähm mann entpuppte? ich meine nicht dragqueen, sondern optisch eine frau, naja bis auf den unterkörper halt .... ich mein auch nicht im ausland, sondern in einer disco in deutschland...
(01:58) christian.: Hat ein nettes Mädchen Lust zu schreiben? Bitte einfach privat melden!
(01:59) jolo: mah ned son aufriss...gibt falten..
(01:59) .blindschleiche: hoits maul! *g
(01:59) Optimaler_Look!!!: Ja Du, genau Du! Traumfau bitte melden ;o) Schreib doch gleich eine Nachricht *freu*. Ich bin der Mann für (D)eine Nacht oder auch Mehrere... Zärtlich, einfühlsam oder hart und bestimmend, so wie Du es gerne hast Zwinker...Früher war ich eitel - heute weiß ich, dass ich schön und brutal sexy bin.
(01:59) System: boy_sucht_ältere kommt hinein.
(01:59) jolo: domino-ess
(02:03) 17xcm: nimmt michi die peitsche weg und peitscht sexsüchtige auf den hintern...
(02:04) System: tobias kommt hinein.
(02:05) Optimaler_Look!!!!!!: Es gibt gute und es gibt mich. Don't Stop (Me Now!)

Keiner schien auf Andrés Frage eingehen zu wollen. Er schob den Mauszeiger gerade auf den offline-Button, als ein Privatfenster aufging:

MaleTemptation: hi, ich bin marcundfind dich sexy:-)
André: danke, ich habe nur eine frage:
MaleTemptation: was genau ist deine frage??
André: hast du schon mal eine frau kennengelernt, die sich dann als mann entpuppte? ich meine keine dragqueen, sondern optisch komplett frau, zumindest angezogen ... in einem club in bremen ...
MaleTemptation: ich hatte schon mal was mit so ner frau oder mann:-)
André: warst du nicht geschockt?
MaleTemptation: ne ich habs gewusst und habs genossen
André: achso, na das ist was anderes
André: bei mir die hat nix gesagt und dann war ich irgendwie … irritiert
André: und hab sie rausgeworfen
MaleTemptation: sie war also oben eine frau und unten ein mann?
André: ja
MaleTemptation: okay:-)
MaleTemptation: und du dachtest du hast was mit ner frau
André: ich meine, ich hab ja auch null erfahrung in sowas
MaleTemptation: okay..magst du dicke schwänze?
Pause.
André: ich glaube, das ist nicht, worum es mir geht -- ich warf sie raus, aber es tat mir hinterher irgendwie leid
André: ich mein, die kann ja auch nix dafür
MaleTemptation: ich frag trotzdem ob du dicke schwänze magst

André klickte den Fremden weg und flüchtete nahezu aus dem Chat. Die letzte Frage traf ihn vollends. Irgendwie hatte er sich alles anders vorgestellt. Das Gespräch verlief für ihn nicht wirklich befriedigend. Aber er hätte es wissen müssen. Immerhin unterhielt er sich mit einem Mann in einem Erotikchat.
      André machte den PC aus, trank den inzwischen kalten Tee in einem Zug leer. Er schaltete Johnny Cash ab und ging ins Bett. Die Nacht war eh nicht zu retten. Und er vermutlich auch nicht.

Weil er nicht schlafen konnte, entsorgte er am nächsten Vormittag alles, was ihn an Sandra erinnerte. Jede noch so kleine Aufmerksamkeit flog in den Müll. Danach wirkte die Wohnung ungewöhnlich leer, aber er fand es nicht schlimm. Wenn keine Frau da war, musste das Appartement auch keinen fraulichen Touch haben. Es war an der Zeit, dass er sie nach seinem Geschmack einrichtete.
      Als er die Schüssel in der Küche aufhob, erinnerte er sich an Candy. Ach, verdammt! Er war sich nicht sicher, was er von der ganzen Sache halten sollte. Auf der einen Seite tat sie ihm leid und auf der anderen tat er sich leid. Irgendwie waren sie beide Verlierer gewesen, obwohl die Nacht begonnen hatte, als seien sie Gewinner.
      André säuberte die Schüssel, ehe er sie an ihren Platz in den Küchenschrank zurückstellte. Er beschloss, einen Döner zu Mittag zu essen, bevor er in die Mission ging.
      Plötzlich klingelte sein Smartphone.
      Armin. Er drückte ihn weg.
      Und noch mal.
      Dann kam eine SMS: Alter, was geht mit dir, war die Braut so schlecht?
      André seufzte. Vielleicht sollte er es Armin einfach sagen. Aber hatte er ein Recht darauf, ihr … sein Geheimnis weiterzugeben? Trotzdem fühlte er sich unwohl bei dem Gedanken, sie … ihn zu verraten.
      Also schrieb er zurück: Alles easy, man. Bin gerade beschäftigt, melde mich später.
      Als André die Wohnung verließ, knirschte etwas unter seinem Schuh. Unter seinem Fuß fand er einen von Candys Ohrringen. Den musste sie … er verloren haben, als sie gestern die Leidenschaft überschwemmt hatte. Oh Mann. Er bekam eine Gänsehaut.
      Plötzlich begriff André etwas.
      Demnächst sollte er unbedingt wieder ins Elvis’ Guitar.
      Und wenn er nur den Schmuck abgab.

Autorin: Anna Noah

Biographie

Bibliographie:

ohne Anspruch auf Vollständigkeit

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